Beziehung ist natürlich etwas verwirrend, weil jede Interaktion mit meinem Umfeld eine Beziehung ist. Ich schreibe hier über Beziehungen im partnerschaftlichen Sinn. Zum Zeitpunkt meines Schlaganfalls war ich 17 Jahre mit meiner Frau verheiratet und unser Sohn war 13 Jahre alt, als er in jener Nacht miterleben musste, wie Papa schwerbehindert wurde und sein Leben nicht mehr selbstständig leben konnte. Ich bleibe erst einmal bei meiner Ehe. Zu Kindern komme ich später noch einmal zurück. In 17 Jahren Ehe war ich mir sicher, dass das die Beziehung fürs Leben ist. Ich hätte nicht gedacht, das wir uns je trennen würden. Mit einer Nacht kam alles anders. Auch unsere Beziehung.
Plötzlich Pflegefall und nicht mehr vollwertiger Lebenspartner
Ich wurde ein Pflegefall mit 43 Jahren und meine Frau, die zwar schon zuvor Hauptverdienerin war , erbte eine noch größere Verantwortung. Finanziell, aber auch für die Familie mit Kind und schwerbehindertem Mann. Ich brauche wohl kaum sagen, wie anstrengend und erdrückend diese neue Situation war.
Ein Schlaganfall für die ganze Familie
Am Anfang habe ich einmal geschrieben, dass man einen Schlaganfall nie alleine hat. Genau so ist es. Meine Frau, mein Sohn, meine Eltern, meine Schwester und auch meine Freunde hatten alle diesen Schlaganfall, oder zumindest die Auswirkungen, mit mir zusammen. Sicher, alle waren unterschiedlich stark betroffen, aber betroffen waren sie alle. #stroketruth: Bedenke immer, dass du nicht alleine leidest. Ja, du hasst die Hauptlast zu tragen, aber das schmälert nicht die Angst, Sorgen und die Mühe, die dein direktes Umfeld mittragen. Ich habe es nicht geschafft, meinen Dank und meine Wertschätzung entsprechend auszudrücken. Mach nicht denselben Fehler. Auf der anderen Seite macht deine Beziehung gerade einen Stresstest der ganz besonderen Sorte durch. Wir haben schnell gemerkt, dass unsere Beziehung anders ist. Klar, war sie auch vorher nicht perfekt, aber für mich war sie für immer. Auch jetzt dachten wir immer noch, wenn wir zusammenhalten, werden wir es schaffen, mit 80 zusammen im Schaukelstuhl auf einer Terrasse zu sitzen. Ob es dazu kommt, wird man sehen. Als Paar wohl nicht mehr, aber das macht nichts. Eine gute Freundschaft ist mehr wert, als eine schlechte Paarbeziehung. Jedenfalls hat der neue Stress uns überfordert und zwar auf eine vielfältige Art und Weise, die ich mir niemals hätte vorstellen können. Ich nehme es mal vorweg: Wir haben uns getrennt. Niemand hat den anderen verlassen oder sitzen gelassen. Das Ereignis Schlaganfall hat einfach alle Probleme intensiviert. So mussten wir uns irgendwann eingestehen, dass wir als Paar nicht mehr funktionierten. Wir haben uns mit dem ausdrücklichen Wunsch getrennt, dass jeder von uns glücklich werden kann – auch mit anderen Partnern. Wir wollten immer Mama und Papa für unseren Sohn bleiben, wir wollten sogar bessere Eltern werden, als wir als Paar waren. Viele Dinge haben zu dieser Entscheidung beigetragen. Hauptsächlich war es aber die Überforderung von uns beiden, mit dieser neuen Situation umzugehen. Wir haben uns in Frieden und mit besten Wünschen füreinander getrennt. Natürlich hatten wir Angst vor dem Schritt. Angst davor, unserem Sohn zu schaden. Vielleicht doch nicht glücklich zu werden. Ich hatte Angst vor nicht vorhandener finanzieller Absicherung. Ich hatte vor so vielen Dingen Angst, die ich damals gar nicht richtig benennen konnte. Rückblickend war es für uns eine gute Entscheidung. Nach anfänglichen Irritationen sind wir nun gut befreundet und verstehen uns besser, als lange Zeit vor unserer Trennung. Wir sind gemeinsam für unseren Sohn da und für uns gegenseitig. Wir haben beide inzwischen neue Partner und sind uns insofern treu geblieben, als dass wir uns gegenseitig erlauben, glücklich zu sein. Das ist eine großartige Erfahrung, die ehrlicher und authentischer ist, als jedes Liebesbekenntnis in 17 Jahren Ehe.
Schlaganfall als Beziehungskiller
Ein Ereignis wie ein Schlaganfall hat sehr wohl das Potential, eine Beziehung zu zerstören, aber es eröffnet auch wieder andere Möglichkeiten, denn es gibt dir eine neue Perspektive auf das Leben. Auch habe ich gelernt, mit mir selbst viel ehrlicher zu sein. Ich bin von Anfang an offen mit meiner Krankheit umgegangen und tue das offensichtlich auch mit diesem Text. Es folgt ein Abschnitt, bei dem ich auch sehr offen und ehrlich sein möchte, und er ist von Beziehungen nicht zu trennen: Sex! Zunächst geht es mir einmal um die Meta Ebene in Bezug auf Sex in Beziehungen nach einem Schlaganfall. Im Detail gehe ich noch einmal auf Sex nach Schlaganfall im entsprechenden Kapitel ein. Wenn du nicht gerne über Sex redest und auch nicht darüber lesen möchtest, kannst du diesen Teil ja überspringen. Zu einer gesunden Beziehung gehört für mich guter Sex. Zumal Sex die eine Aktivität nach meinem Schlaganfall war, bei der ich mich relativ normal fühlen konnte. Klar, wilde Stellungen mit viel Bewegung waren nicht mehr möglich, aber an sich war es immer noch toll. In meiner Situation kam es aber, wie es kommen musste: Mit der aufkommenden Erkenntnis, dass die Beziehung nicht funktionierte, schwindet die Liebe und damit auch der Sex. Eines Abends schlug meine Frau vor, ich solle mich doch bei Tinder anmelden. Online Dating war so nicht in meinem Horizont vorhanden, aber wir haben dann tatsächlich noch einmal darüber gesprochen und festgestellt, dass es vielleicht keine ganz blöde Idee ist.
Dating mit Behinderung
Mein erster Gedanke war natürlich: Warum soll ich das überhaupt versuchen? Wer will schon ein Date mit einem schwerbehinderten, arbeitslosen Mann in kaputter Beziehung? Mit dieser Einstellung habe ich nicht nur mich fälschlich reduziert, sondern alle anderen Menschen mit Behinderung oder ohne Job. Ich bereue bis heute diese Einstellung, sogleich ich sie ablegte und in das kalte Wasser sprang. Tinder, here I come. Was für eine Erfahrung!! Klar war es nicht einfach, passende Dates zu finden, aber wenn du es nicht probierst, weisst du auch nicht, was passiert. Wir haben uns beide angemeldet und auch über unsere Erfahrungen ausgetauscht, was manchmal sogar ziemlich lustig war. Für mich war es wieder eine Phase der Reflektion und Entdeckung meiner selbst. Gut eine Woche später hatte ich mein erstes Date. Natürlich fiel es mir schwer, meine Situation zu beschreiben, aber zum Glück traf ich auf viel Verständnis, und so hatte ich eines Abends ein Date am Hamburger Hafen. Ich fasse die Geschehnisse kurz zusammen: Wir hatten einen schönen Abend mit Dinner und Musik am Hafen. Wie schon erwähnt, hätte ich nicht gedacht auf so viel Verständnis und Zuneigung zu stoßen. Wir planten ein 2. Date, bei dem wir uns emotional und körperlich viel näher kamen. Eine schöne Erfahrung. Die Lehre für mich und alle anderen Mitstreiter könnte hier sein: Ja, ich habe Einschränkungen, aber meine Behinderung ist nicht, was mich ausmacht, sondern viel mehr der Mensch mit Charakter und Seele dahinter. Hört sich kitschig an, hat mir aber Zuversicht und Selbstvertrauen gegeben. Gut, als das Experiment wenige Wochen später zu Ende ging, hat es schon geschmerzt, aber ich bin gestärkt aus der Situation herausgegangen. Und wie immer#stroketruth: Wenn eine Tür zugeht, geht irgendwo ein Fenster auf. Ein paar Wochen habe ich erlebt, wie anstrengend und frustrierend Tinder sein kann, aber ich habe weiter nach dem offenen Fenster Ausschau gehalten und nachdem ich mich schon abgemeldet und dann doch wieder angemeldet hatte, spürte ich den frischen Wind des offenen Fensters. Ich verabredete mich zu einem neuen Date. Alle vorherigen Erfahrungen wie Verständnis und Zuneigung erfuhr ich um ein vielfaches gesteigert. Abkürzung: Heute nach fast 1,5 Jahren fahre ich wieder zu dieser lieben und tollen Frau. Die Idee Tinder kann also doch funktionieren. Inzwischen glaube ich auch, dass mein Schlaganfall und meine Einschränkungen mich nicht uninteressanter oder weniger Wert gemacht haben, sondern im Gegenteil mir Größe und Tiefe geben. Somit möchte ich alle Menschen in ähnlicher Situation ermutigen, an sich zu glauben und sich zu trauen! Du bist so viel mehr als dein Schwerbehindertenausweis. Du bist reich an Lebenserfahrung und hast eine Tiefe, die du vielleicht sonst nie bekommen hättest. Das ist die Geschichte meiner Erfahrung von Beziehungen und Dates nach meinem Schlaganfall.
Gute Freunde oder schlechtes Paar nach einem Schlaganfall?
Ich will hier aber auch noch auf die Frau eingehen, ohne die das nicht möglich gewesen wäre: Meine Frau. Wir sind noch immer verheiratet, aber geben uns den Raum, uns selbst und unser Glück zu finden. Auch meine Frau hat über Tinder Dates gefunden und auch bei ihr hat es einige Anläufe gebraucht, bis sie jemanden gefunden hat, mit dem sie glücklich ist. Ich freue mich für uns beide und sage Danke für den Weitblick. Das war die Vergangenheit. In der Gegenwart zeigt sich, wie erwähnt eine andere Geschichte in Bezug auf Beziehungen nach Schlaganfall. Immer noch sind alle betroffen und es ist zwingend notwendig, das zu verstehen. Zwingend ist natürlich auch, dass der neue Partner großes Verständnis für die Situation aufbringen kann. Ein Leitsatz in meiner neuen Beziehung ist: Es braucht immer 2 Menschen, um eine Situation zu bewältigen. Kombiniere dieses Verständnis mit guter, offener und ehrlicher Kommunikation, und du kannst sehr viele unschöne Situationen entweder gleich vermeiden oder schnell lösen. Fazit ist: Beziehung nach Schlaganfall: Geht! Nur weil ich eine neue Partnerin dafür finden musste, heißt das nicht, dass eine bestehende Beziehung nicht funktionieren kann. Aber du musst auch nicht zwingend daran festhalten, wenn sie euch nicht glücklich macht. Gerade, wenn man einen Schlaganfall überlebt hat, versteht man, wie kurz das Leben sein kann und wie wichtig ein glückliches Leben ist. Während ich versuche, mein Glück nicht mehr von anderen Menschen oder einer Beziehung abhängig zu machen, kann eine schöne Beziehung helfen, glücklich zu sein! Das Gefühl zu bekommen, in dieser schwierigen Situation vollwertig zu sein, ist toll und gibt mir viel Selbstwert und Vertrauen in mich und mein Umfeld.