Welche Rolle spielt die Familie nach einem Schlaganfall?
Während sich die vorherigen 2 Kapitel mit der eigenen Familie beschäftigt haben, möchte ich hier auf Familie im ursprünglichen Sinn, also Eltern, Geschwister etc. eingehen. Ich war meinem Sohn wohl relativ ähnlich in meiner eigenen Pubertät. Ich befürchte sogar, ich habe meine Eltern deutlich mehr ge- und überfordert. Zu Beginn des Buches habe ich schon einmal angedeutet, dass ich diese Zeit inzwischen reflektiert habe und mich mehrfach bei meinen Eltern entschuldigt habe. Ich war anstrengend und das tut mir aufrichtig leid. Aber es musste so sein, damit ich verstehen konnte, wer ich bin. Um so weniger ist es selbstverständlich, dass meine Eltern noch immer bedingungslos zu mir stehen. Oder ist es so, dass Eltern einfach bedingungslos zu ihren Kindern stehen?
Bestimmt gibt es verschiedene Ausprägungen. Und hiermit spreche ich meine Eltern auch nicht von allen Geschehnissen frei, die sie meiner damaligen Ansicht nach falsch gemacht haben, aber heute weiß ich natürlich, dass auch Eltern Menschen mit eigenen Sorgen und Problemen sind und durchaus das Recht haben, Fehler zu machen, genau wie ihre Kinder.
Meine Eltern: Fels in der Brandung, Rettungsboot und sicherer Hafen
Nicht nur habe ich das Glück, meine Eltern zu haben, ich habe wie gesagt auch noch das Glück, dass sie mir nach schwieriger Pubertät nun ein zweites Mal beistehen und unterstützen, bis ich (sogar wörtlich) wieder auf eigenen Beinen stehen kann. Meine Eltern sind gewiss nicht die einfachsten Menschen auf der Welt, aber ohne sie wäre ich nicht. Punkt. Zeit noch einmal die letzten Jahre im Hinblick auf meine Eltern zu reflektieren. Ich fange einmal ganz vorne an. Nach, bzw. zum Ende meiner Pubertätsphase, als niemand mehr ernsthaft glaubte, dass ich das Abitur und schon gar kein Studium schaffen werde, haben meine Eltern mich tatkräftig bei dem notwendigen Schulwechsel unterstützt. Auf der neuen Schule war nicht alles besser. Ich war immer noch ein Chaot, dem Feiern oft wichtiger war als Schule, aber es zeichnete sich ab, dass ich eine Chance hatte, das Abitur zu schaffen. Ein roter Faden dieses Buches ist, #stroketruth: dass Verbesserung nicht als Befreiungsschlag passiert, sondern in Mikroschritten. Das galt damals wie auch heute in meinen Therapien. Ich begann wohl langsam zu verstehen, dass ein guter Schulabschluss mir in meinem Leben helfen wird. Long Story short: Ich habe mein Abitur geschafft. Natürlich hatte ich noch keine Ahnung, was ich danach machen wollte. Inspiriert von meinem Umfeld und meinen ersten Führungserfahrungen im Sport, hatte ich so eine Ahnung, dass ich irgendwie in wirtschaftlichen Bereichen arbeiten möchte. Also suchte ich nach geeigneten Studiengängen. BWL kam als viel zu normal und langweilig nicht infrage. Da ich immer gerne im Ausland unterwegs war und auch einigermaßen begabt in Sprachen war, fand ich letztlich den Studiengang Internationale BWL attraktiv.
Abkehr von und Rückkehr in den Heimat Hafen
Das Problem war nur, dass mein Abi doch nicht ganz so gut war, um an den meisten Unis, die so etwas anboten, angenommen zu werden. Schließlich fand ich den Studiengang an der FH Düsseldorf ohne NC. Ich war im letzten Jahrgang ohne NC. Ein Jahr später wäre ich auch dort nicht mehr genommen worden. Wie auch immer. Glück gehabt. Im Sommer vor Studienbeginn musste ich noch ein Praktikum absolvieren. Wieder Glück gehabt. Dank eines Freundes meines Dads konnte ich ein Praktikum bei einer Investmentbank in New York machen. Rückblickend war das wohl der Startschuss für all das, was in den nächsten 12 Jahren folgte. Als Teil des Studiengangs musste ich außerdem ein Auslandssemester absolvieren. Nach dem Vordiplom bin ich also mit einem jetzt guten Freund nach Kalifornien auf ein College gegangen. Aus einem Semester wurden 12 Jahre, eine Ehe und ein Kind, der Umzug nach New York und Connecticut, eine Reihe von Sprüngen auf der Karriereleiter, viele späte Nächte an der Arbeit und wenig Schlaf und natürlich auch das schon erwähnte Burn-out. Zu der Zeit wusste ich aber nicht, warum ich krank bin. Ich hoffte noch, dass mit einer Auszeit alles wieder ins Lot kommen würde. Also pausierte ich meinen Job für ein paar Wochen und flog nach Hause zu meinen Eltern. Ich hatte die Idee, dass ich in den Bergen runterkommen konnte. Mein Dad hat ohne Zögern einen Aufenthalt in Zermatt gebucht, und wir haben dort einige Zeit verbracht. Nachdem ich wieder in New York war und wieder zu arbeiten begonnen hatte, dauerte es nicht lange, bis die Symptome wiederkamen. Bis zu jenem Tag, an dem ich mitten in einem Meeting entschied, nicht mehr zu arbeiten und nach Deutschland zurückzukehren. Wieder haben meine Eltern unsere Entscheidung unterstützt und nach Ankunft uns finanziell mit Geld und Bürgschaften den Kauf eines kleinen Hauses ermöglicht. Das Haus war natürlich Schrott und musste komplett renoviert werden. Zum Glück wohnte meine Schwiegermutter im gleichen Ort, und wir fanden mitsamt dem Inhalt eines 40 Fuß Containers unseres Umzugs Unterschlupf bei ihr und konnten ihr Wohnzimmer mit unzähligen Kartons voll stellen. Ein paar Jahre vor gespult: Ich bin selbständig, meine Frau arbeitet Vollzeit und trägt die komplette finanzielle Verantwortung. Ich verdiene zwar etwas Geld, aber das ist mehr unser Geld zum Ausgeben, als dass es das Leben finanziert. Jetzt knüpfe ich die Geschichte an dem Punkt an, an dem wir entschieden nach Hamburg zu ziehen, unser Haus auf dem Land zu verkaufen, auf dem Grundstück allerdings noch ein Mietobjekt bauten. So kam es, dass wir in Hamburg eine Übergangswohnung mieteten. Dann kam der 14. September 2020. Eine Woche zuvor haben meine Eltern und ich noch 300 Kilogramm schwere Fensterscheiben eingebaut. Am 15. September hatte ich nur noch eine Körperhälfte zur Verfügung. Während meiner stationären Reha hatten meine Eltern schon ihr Zuhause zeitweise nach Damp an die Ostsee verlegt, um mich jeden Tag besuchen zu können und mich im Rollstuhl spazieren zu fahren. Auch während meiner stationären Reha übernahm meine Schwester das Projektmanagement des Neubaus. Eine undankbare Aufgabe, so ein Chaosprojekt zu übernehmen. Nach meiner stationären Reha zogen meine Eltern sofort wieder temporär in den Norden. Die Schwiegermama stellte uns Ihr Haus in der Nähe meiner ambulanten Rehaklinik zur Verfügung, und meine Eltern fuhren mich jeden Tag zur Physiotherapie. Dazwischen arbeiteten wir auf der Baustelle. Dann und wann kam auch noch meine Schwester mit Partner dazu, um ein paar letzte Arbeiten auf der Baustelle abzuschließen. Irgendwann und irgendwie haben wir es dann geschafft und das Haus fertiggestellt.
Familie als Auffangbecken nach einem Schlaganfall in jungen Jahren
Ich will hier zeigen, dass Familie wohl der wichtigste Baustein einer Genesung nach einem Schlaganfall sein kann. Im Englischen sagt man so schön: “It takes a village …“ Ja, das bezieht sich eher auf das Aufwachsen von Kindern, lässt sich aber mit ein bisschen Transferleistung schön übertragen. Ein Schlaganfall ist ein echter Einschnitt, bei dem man vieles wieder von ganz vorne lernen muss, und es braucht eine ganze Gruppe von Leuten, um 1 einziges Leben wieder herzustellen. Sei also geduldig und lieb mit deiner Familie und liebe Familie, steht zu euren Mitgliedern. Sie brauchen euch. Alle! Ohne meine Familie, ich wiederhole mich, aber bei dem Aufwand ist das nur richtig, ohne meine Familie wäre ich jetzt nirgends. Danke.