Ja, wer bin ich? Und was will ich? Diese Fragen habe ich mir in den letzten Jahren seit meinem Schlaganfall oft gestellt, oft stellen können. Vor dem Schlaganfall habe ich diese Fragen bewußt nicht gestellt und schon gar nicht versucht zu beantworten. Doch sind es 2 der entschiedensten Fragen, die sich jeder – mit oder ohne Schlaganfall stellen sollte. In diesem 1. Kapitel beantworte ich die Frage: „Wer bin ich?“ gleichzeitig für mich, aber auch als Hintergrund für dich. Natürlich sind unsere Historien nicht identisch. Ich bin nicht besser als du und auch nicht schlechter. Ich bin einfach anders: Achtung #exkursion: Anders! Natürlich bin ich mit einer Einschränkung anders als andere Menschen. Das erlebe ich jeden Tag und außer mir erleben viele Menschen aufgrund welcher Merkmale auch immer, dass sie anders sind und das auch immer wieder gezeigt bekommen. Hier ist es egal, ob du anders bist aufgrund des Geschlechts, Hautfarbe, Herkunft, Religion, Behinderung, Aussehen. Du bist anders. Nicht besser, nicht schlechter, einfach nur anders und das ist gut. Diversität ist gut!! Als behinderter Mensch, spüre ich, dass ich als „anders“ wahrgenommen werde in vielen Situationen, jeden Tag. Jetzt kann ich versuchen, “normal” zu sein (was auch immer das ist) oder ich kann es akzeptieren wie es ist, denn ich weiss um meinen Wert so wie ich bin. Ich will nicht normal sein. Und was auch immer dich anders macht, schätze es. Es ist ein Zugewinn – für dich und dein Umfeld. Für uns, für unsere Gesellschaft – die zweifelsohne noch nicht verstanden hat, dass „anders“ gut und bereichernd ist. Aber auch das gilt es zu akzeptieren, auf sich zu schauen und in kleinen Schritten im Rahmen der eigenen Möglichkeiten Veränderung herbeizuführen. #exkursion Ende.
Zurück zum Thema: Um zu verstehen wer man ist, muss man zuweilen weit zurück in seine Vergangenheit, evtl. sogar die seiner Eltern und Großeltern reisen. Ab einem Alter von 6 Jahren habe ich regelmäßig Leichtathletik betrieben. Seit ich 12 Jahre war, so regelmäßig, dass man von Leistungssport sprechen kann. Es war eine schön und auch schwierige Zeit. Wir hatten eine kleine, tolle Trainingsgruppe, die alle mit viel Einsatz trainierten. Natürlich gab es Rivalitäten und den stetigen Versuch der Verbesserung. Während uns klar war, dass Verbesserung nur mit viel Training möglich war, grätschte uns – vor allem mir – irgendwann die Pubertät dazwischen und andere Dinge schienen wichtiger. Nichtsdestotrotz schreibe ich dieser Zeit noch immer meinen unbändigen Willen etwas zu erreichen zu. Segen und Fluch zugleich – wie ich später noch erklären werde. Wir trainierten bei jeder Witterung: im Sommer in der Hitze, im Winter im Schnee. Wir trainierten so lange bis der Körper die Handbremse zog und uns aus Erschöpfung zum Übergeben ins Gebüsch zwang. Aber wir wollten es so. Es waren tolle Momente und das Leben war einfach.
Die Pubertät: Zur Zeit darf ich am eigenen Leib erfahren was Pubertät für Eltern bedeutet. Nur soviel: Inzwischen habe ich mich mehrfach bei meinen Eltern für mein bescheuertes Verhalten entschuldigt. Payback is a bitch. Natürlich musste ich durch diesen Prozess gehen, sonst wäre ich niemals der Mensch geworden, der ich heute bin — gut und schlecht.
Grenzen erkennen und verwalten ist gold.
Letztlich haben mich meine Pubertätseskapaden meinen Traum von Olympia gekostet. Damit habe ich zwar schon lange Frieden geschlossen und gleichzeitig ist mir das Opfer bewusst.
Ich spule ein bisschen vor. Ich will ja keine Autobiographie schreiben.
Irgendwie habe ich nach einem Schulwechsel zur 12. Klasse entgegen jeglicher Prognosen von Lehrer: innen und Eltern doch noch mein Abitur geschafft und in 1997 angefangen Internationale BWL zu studieren. In 2001 stand ein Auslandssemester an, dass ich mit einem guten Freund organisierte. Wenig später standen wir- jeder mit einer Reisetasche vor einem Hotel in der Nähe von San Francisco. Eine Woche später ging das College los. Die folgenden 3 Jahre waren wohl mit die prägendsten Jahre meines Leben, zumindest in Bezug auf Selbstfindung in diesen jungen Jahren. Gegen Ende meiner Collegezeit lernte ich meine Frau kennen, die aus New York aus nach Kalifornien zu Besuch gekommen war.
Burn Out
Aus dem Auslandssemester wurden 12 Jahre Leben und Arbeiten in San Francisco und New York. Und nein, es ist wieder keine Erfolgsgeschichte, wenn auch diese Zeit meist eine wunderschöne und aufregende Zeit war. Nach anfänglichen Schwierigkeiten einen Job zu finden, der dot-com Bust in Kalifornien war gerade in vollem Gange, fand ich schließlich in New York meine ersten Jobs. Scheinbar hatte ich das Bedürfnis viel aufzuholen und arbeitete hart und viel. Schließlich wusste ich ja wie man an seine Grenzen geht und auch darüber hinweg. Ich fand immer “bessere” Jobs mit mehr Gehalt (und natürlich noch längeren Arbeitszeiten) Als das Jahre 2006 kam hatten wir gerade unser erstes Haus gekauft und mühselig renoviert. Ein knappes Jahr später wurde unser Sohn geboren. Zur gleichen Zeit fand ich den nächsten Job. Wir verkauften unser Haus, kauften ein neues Haus dichter an der Stadt, um die Anfahrtszeit zu verringern. Dann kam die Zeit in der alles anders wurde und ich es nicht gemerkt habe, weil Grenzen ja in der Vergangenheit auch relativ waren. Der Job war fordernd und der kleine Sohn, eigentlich ein sehr ruhiges Kind, wollte nachts einfach nicht schlafen und so haben wir natürlich auch nicht geschlafen. Genau wie damals, als ich Leistungssport betrieb und gleichzeitig meine Jugend feiern wollte, wollte ich nun Vater des Jahres werden und gleichzeitig den Job meines Lebens machen. Was kann schon schief gehen? Alles! Nach gut einem Jahr mit 10-12 Stunden pro Arbeitstag und nur 4-5 Stunden Schlaf pro Nacht stand ich eines Mittags in einem Deli nahe meines Büros und hatte ein komisches Gefühl im Körper. Ich dachte ich habe einen Herzinfarkt. Hatte ich aber nicht. Ich ging nach Hause. Irgendwie fand ich trotz Desorientierung und nur noch halbem Sichtfeld den Bahnhof in New York City und den Weg nach Hause. Die anschließende Untersuchung in der Notaufnahme ergab einen völlig gesunden 30 jährigen. In den folgenden Monaten, hatte ich immer wieder diese Episoden, die zu Sichtfeldeinschränkungen und Panikattacken führten. Kein Arzt konnte meine Symptome zuordnen . Im Rahmen einer Umstrukturierung verlor ich meinen Job und suchte mir dennoch innerhalb kürzester Zeit einen Neuen. Langsam begriff ich, dass es ernst wurde. Als ich eines Tages in einem Meeting einen Satz nicht mehr zu Ende sprechen konnte, stand ich auf und wusste, dass es so nicht weitergehen würde. Bis hierhin hatten wir einen Großteil unserer Ersparnisse für Ärzte verbraucht. Nach einigen Unterhaltungen mit meiner Frau wurde klar, dass unsere beste Option ist nach Deutschland zurück zu kehren. Das taten wir auch in 2010. Es war eine sehr emotionale Zeit. Und auch wenn es in Deutschland ein gutes soziales Netz und unsere Familien gab, mussten wir schnell wieder ins Hamsterrad einsteigen und Geld verdienen. Ich hatte in der Zwischenzeit Kontakt zu einem Autor aufgenommen, der immer wieder einmal technische Hilfe benötigte. Das entwickelte sich schnell in Kommunikationsprojekte weiter und schwups war ich selbständig. Es folgten weitere Kunden und ein eigener Online Shop. Heute weiss ich, dass ich damals unter einem massiven Burn Out litt. Damals hatte davon kaum jemand gehört. Also drehte sich das Hamsterrad weiter. Die Symptome wurden aber langsam besser. Ich begann sogar mich ehrenamtlich als Nachwuchstrainer bei einem Hamburger Baseballverein zu engagieren. Das Leben war insgesamt ruhiger als in einer Werbeagentur in New York. Trotzdem kämpfte ich 10 Jahre mit den Folgen meines Burn Outs. Kurz nach Weihnachten 2018 wurde ich plötzlich mit hohem Fieber und starken Rückenschmerzenkrank krank. Ich musste ins Krankenhaus. Ich hatte eine e.coli Sepsis, die eine Zyste an meiner Wirbelsäule gebildet hatte und auf Nervenbahnen drückte. Laufen war unmöglichen und es war das erste Mal, dass Ärzte mir prognostizierten, dass ich nicht wieder laufen werde. Mein Wille setzte ein und nach einigen Monaten Physiotherapie lief ich wieder. Sogar sprinten ging wieder. Glück gehabt.
Der Schlaganfall
1 Jahr später entschieden wir nach Hamburg zu ziehen. Am 14. September 2020 war ich mit meinem Sohn in einer temporären Wohnung in Hamburg, denn er ging schon auf die neue Schule. Wie immer gingen wir ins Bett – nur am nächsten Morgen war nichts mehr wie immer. Ich wollte nachts aufstehen, konnte aber nicht. Natürlich habe ich mir nichts dabei gedacht. Wird schon gehen. Als gegen 8 Uhr morgens ein Rettungssanitäter über mir stand und sagte “Ja, sie hatten einen Schlaganfall”, dachte ich mir noch der will mich doch verarschen. Was soll der Scheiß. Ich wusste nicht einmal was ein Schlaganfall ist. Nur, dass sowas ältere Menschen haben- meine Opas zum Beispiel. Meine nächste Erinnerung ist das Aufwachen auf der Stroke Unit im Krankenhaus. In meiner Erinnerung war das ganze Zimmer voll mit Ärzten und Pflegepersonal. Ich konnte meine linke Körperhälfte weder spüren noch bewegen. SHIT! Was folgte waren Monate in Reha. Als ich bei meiner stationären Reha eintraf bekam ich einen Rollstuhl, mit dem ich einige Wochen die Flure entlang cruiste. Hier bekam ich auch das zweite Mal die Prognose, dass ich wohl nicht mehr laufen werde. Es waren die Jahre 20/21: Corona Lockdown. Ich durfte keinen Besuch empfangen. Die 3 Monate Reha erschienen mir wie 3 Jahre. Mein Sohn ging während der Woche zur Schule und meine Frau arbeitete Vollzeit. Sie konnten nur an Wochenenden zu Besuch kommen. Und meine Frau erbte natürlich alle offenen Projekte(Hausbau, Hauskauf und Renovierung und einen pubertierenden Sohn, den sie in dieser Zeit alleine durch seine ersten schwierigen Phasen im Leben begleiten musste).Zum Glück machten meine Eltern was meine Eltern eben machen und wofür ich sie unendlich liebe und ihnen unendlich dankbar bin: Sie mieteten sich eine Ferienwohnung ganz in der Nähe des Rehakrankenhauses und besuchten mich jeden Tag vor der Klinik. Anfangs schoben sie mich im Rollstuhl. Bis ich an einem Tag genug hatte und meiner Mama sagte, sie soll mich bitte einmal zu einem Geländer fahren. Dort konnte ich mich festhalten und bin unter elterlichem Protest aufgestanden und beginn meine ersten Schritte zu machen. Nach 10 Metern war zwar die Luft raus, aber ab diesem Moment machten wir das jeden Tag, egal ob Regen, 0 Grad und Wind, einfach jeden Tag. So lange bis ich in der Klinik einen Gehstock bekam. Ein kleiner Schritt auf dem langen Weg der Genesung. Weitere Wochen und Monate in Reha gefolgt von täglicher ambulanter Physiotherapie mit den tollsten Therapeuten der Welt. Gepaart mit eisernem Willen wieder zulaufen, ja Baseball zu spielen, habe ich es nach gut 6 Monaten geschafft wieder ohne Hilfe zu gehen – nicht schön, aber meine Beine trugen mich von A nach B.
Da hast Du es. So kam ich zu meinem Schlaganfall. Die Frage des Kapitels war: Wer bin ich? Nun inzwischen weiss ich, dass mein altes Ich ein verbissener Controlfreak war und da ich keine Risikofaktoren wie Rauchen, Trinken oder zu wenig Bewegung hatte, bleibt wohl nur der Stress als Mitauslöser. Selber Schuld könnte man sagen, aber ganz so einfach ist es dann wohl auch wieder nicht. Es ist was es ist. Obwohl der Schlaganfall mich fast mein Leben gekostet hat, denke ich heute, dass er mich gerettet hat. Mehr dazu in den folgenden Kapiteln. 2,5 Jahre intensive Therapien und tägliche Reflexion haben mich ein gutes Stück weitergebracht auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Menschen- vor allem mir selbst gegenüber. Während der Prozess der Veränderung natürlich andauert, kann ich trotzdem schon behaupten, dass mein neues Ich viel gelernt hat. Vieles davon erzähle ich dir in den nächsten Kapiteln. Das ist meine Geschichte und ein bisschen Hintergrund zu der Frage: Wer bin ich? Deine Geschichte wird sicher ganz anders sein und trotzdem bestimmt viele Parallelen haben. Wenn du magst, nimm dir doch Stift und Zettel und analysiere deine Zeit bis zu deinem traumatischen Ereignis.Oft zeigt die Vergangenheit Lösungen für die Gegenwart und Zukunft auf, wenn man genau hinsieht oder zuhört.
Zwischennotiz
Nun weist du ein bisschen über mich und warum ich diese Texte schreibe. In den nächsten Kapiteln gehe ich zunächst auf einige übergreifende Themen, die mich nach meinem Schlaganfall und während meiner Schlaganfalltherapie beschäftigt haben und noch immer beschäftigen. Vielleicht ist einiges davon auch für dich relevant.