Gefangen im Hamsterrad des Arbeitslebens
Ruhe ist ein Geschenk des Schlaganfalls. Vielleicht siehst du es noch nicht. Ich habe auch über ein Jahr gebraucht um es zu sehen. Ob du es siehst oder nicht, ist dabei eigentlich irrelevant, denn der Schlaganfall hat ohne Ankündigung die Handbremse gezogen und was auch immer du vorher gemacht hast, jetzt ist erst einmal Schluss damit, also Ruhe. Klar im Krankenhaus und in der Reha hat man davon nicht viel, aber sobald du wieder zuhause bist, lohnt es sich zu realisieren, dass erst einmal nichts, einfach gar nichts wichtig ist — abgesehen von deiner Genesung. Es lohnt sich ganz bewußt zu beschließen, alles anzuhalten und dich nur auf einige wenige Dinge zu fokussieren. Genesung, Familie und bewußte Ruhe. Meine Erfahrung ist, dass nur ganz bewußte Ruhe wirkliche Ruhe ist. Alles andere ist verplant durch den Tag zu stolpern, sich hiermit und damit zu beschäftigen. So war es jedenfalls bei mir und das war keine Ruhe. Erst als ich mich ganz bewußt entschieden habe, dass ich in den nächsten 3-4 Monaten nichts angehen werde und mich ausschließlich auf Therapie und mein Wohlbefinden konzentriere, begann ich Spannungen zu lösen und wieder Energie zu tanken.
Wiedereinstieg in die Arbeitswelt planen
Früher oder später aber kommt der Moment, an dem du beginnst zu überlegen wie es weiter geht. Irgendwie muss ja Geld reinkommen. In meinem Fall war das im Herbst 2021, also gut 1 Jahr nach dem Schlaganfall. Ich entschied mich zuerst meinen Tagesklinikaufenthalt sinnvoll abzuschließen. Das gab mir 3-4 Monate um mich mental auf die Idee wieder zu arbeiten vorzubereiten.
Finde heraus was du wirklich brauchst und willst
Zu dem Zeitpunkt war ein Vollzeitjob (egal ob angestellt oder selbständig) undenkbar. Also gab ich mir die Zeit, mich weiter zu erholen. Um ehrlich zu sein: Ich hatte allein bei dem Gedanken meine Bewerbungsunterlagen neu aufzubereiten die Hosen voll. Zum Glück hat meine Familie mir den finanziellen Spielraum gegeben um mir diese Zeit zu nehmen und erst weiter zu genesen. #stroketruth: Die Seele weiß wann sie bereit ist, sie war definitiv nicht zum Arbeiten bereit. Unweigerlich kommt in diesem Prozess auch die Überlegung, ob ich überhaupt wieder in das Hamsterrad der Arbeiteinsteigen will, aber ohne Geld ist nunmal auch keine Dauerlösung. Nachdem mein Baseballverein mich von meiner ehrenamtlichen, Trainertätigkeit mit Übungsleiterpauschale endgültig „gefeuert“ hatte und damit das letzte kleine Einkommen, das ich hatte, fing ich an zu überlegen was mein Plan für die Zukunft ist. Inzwischen hatte ich einige Bücher zu Achtsamkeit, etc. gelesen, Podcasts gehört und selbst viel reflektiert und dennoch entschied ich mich dafür auf das alte Bekannte zu setzen. Für mich war das Projektmanagement und Kommunikation. Also bereitete ich nach der Tagesklinik meine Unterlagen auf und suchte nach Jobs.
Mit der falschen Branche ins Unglück
Warum ich dachte, dass Kommunikations- und Mareketingagenturen der richtige Weg sind, ist mir heute völlig unverständlich. Es gab mir wohl Sicherheit, weil es das war, was ich kannte und konnte. Mit einer überraschenden Quote von 50% bekam ich Vorstellungsgespräche von meinen Bewerbungen. Doch dann wurde schnell klar warum das jedoch der völlig falsche Ansatz für mich war. Ich war bestimmt ein wenig eingerostet und nicht immer überzeugend in den Video Gesprächen. Ich gehe aber auch offen mit meiner Krankheit um und wollte nichts verheimlichen, also stand in meinen Bewerbungen, dass ich schwerbehindert bin. An diesem Punkt im Gespräch haben mir 2 Firmen gesagt, dass der Job und ich nicht zusammenpassen. Implizit meinten sie natürlich meine Krankheit und meine Behinderung. Nun ja, es ist wie es ist. Im Nachgang wurde mir schnell klar, dass ich in diesen Firmen niemals arbeiten will. Trotzdem ist es ein Schlag ins Gesicht. Aber es beschleunigte den Prozess mich zu entscheiden, dass ich das Agenturhamsterrad hinter mir lassen werde. Wenn ihr es geil findet Leute bis zum Zusammenbruch auszubeuten oder so wie ich in der Vergangenheit euch ausbeuten zu lassen, dann habt ihr euch gegenseitig verdient. Ich bin raus aus der Nummer. Abgesehen von der rechtlichen Grauzone in denen diese Bewerbungsgespräche stattfanden, zeigen auch diese Gespräche wie asozial unsere Mitmenschen mitunter sind und wie wenig unsere Gesellschaft auf „andere“ Menschen bereit ist einzugehen. Auch wenn es thematisch nicht ganz hier hin passt: Es muss gesagt werden: Alle Menschen, die sich politischen Parteien anschließen, die Diskriminierung unterstützen: Schämt Euch! Ja, ich spreche von den AfD Wählern und deren Gleichgesinnten. Aber ich spreche auch von allen, die sich nicht gegen diese Ungerechtigkeiten stellen.
Sinnstiftende Arbeit reduziert Stress
Aber nicht nur die Bewerbungsgespräche, sondern auch die Tatsache, dass in der Marketingbranche zu 90% sinnlose Arbeit verrichtet wird, die der Menschheit nicht nur nicht dient, sondern ihr in vielen Fällen schadet, lies mich die Frage “Was will ich eigentlich?” neu evaluieren. Bis heute bin ich mir nicht sicher was genau die Antwort ist, aber ich glaube ich bin ein Stück weiter. Ich weiss, ich will kein 60 Stunden Hamsterrad mehr und ich will, dass meine Arbeit einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leistet. Ja, ich bin wohl ein bisschen träumerisch und vielleicht sogar naiv. Das sind 2 meiner besten Eigenschaften, wie ich inzwischen finde. An verschiedenen Stellen kam die Idee auf im öffentlichen Dienst zu suchen. Bekanntlich hat man dort keine 60 Stunden Woche und mit ein bisschen Glück kann man seiner Arbeit Sinn geben. Naiv? Vielleicht. Ich habe auch an Stellen in der Privatwirtschaft mit Bezug zu Klimaschutz gedacht, aber ich wurde zuerst bei der Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwqirtschaft in Hamburg fündig. Danke Sven! Ich bin aber auch ehrlich: Es fühlt sich ein bisschen komisch an, denn wie wahrscheinlich für dich und auch alle anderen Menschen in Deutschland war der Gang oder Kontakt zu einer Behörde für mich eine Angst-, bis Horrorvorstellung. In meinem jugendlich, naiven Kopf jedoch sehe ich die Möglichkeit für Veränderung und Verbesserung. Sowohl die Stadt Hamburg als auch mein zukünftiges Team haben verstanden, dass wir sehr viel Nachholbedarf haben und ich bin stolz bald Teil eines Teams zu sein, dass versucht das Leben für die Menschen, unsere Umwelt und somit für unsere Kinder besser zu machen. Ganz im Sinne des Erfinders, nämlich einen ruhigeren Job zu finden hat der Bewerbungsprozess auch mal lockere 6 Monate gedauert. Aber gut, das Leben ist eben kein Ponyhof. Geduld ist und bleibt eine Eigenschaft, die während des ganzen Lebenshilfreich sein wird, vor allem nach einem Schlaganfall.
Welche Arbeit ist jetzt die Richtige?
#strokehack: Wenn du unsicher bist was du willst, empfehle ich dir das Buch: Finde was du liebst und tue es von Evelin Chudak. Mein neuer Job nicht dass ist, was bei mir während des Lesens und durcharbeiten des Buches rausgekommen ist, aber ich bin der Sache näher gekommen und ordne diesen Job als Schritt in die richtige Richtung ein. Ich verkrampfe nicht um etwas umzusetzen, dass für mich im Augenblick nicht gut ist, sondern gehe einen Sachritt nach dem anderen. Ich fange wieder an zu arbeiten, lerne meine Grenzen dabei besser kennen und lerne sie zu managen. Wenn ich das geschafft habe bin ich viel besser vorbereitet auf ein Projekt, dass viel Energie in Anspruch nehmen wird. Und das ist mir wichtiger als sofort alles umzukrempeln. Wie gesagt, ich glaube nicht mehr an Befreiungsschläge, sondern daran, dass sich alles in Mikroschritten ändert. Mit Ruhe und Hartnäckigkeit komme ich so vielleicht langsamere aber definitiv gesünder ans Ziel. Aus aktuellem Anlass ein Update: Ich habe gestern meinen Arbeitsvertrag für eine vorerst befristete Stelle bei der Umweltbehörde Hamburg unterschrieben. Ich freue mich so sehr auf diesen Schritt, wie ich mich noch nie auf einen neuen Job gefreut habe. Ich bin so viel weiter in meiner persönlichen Entwicklung, dass ich den Start kaum abwarten kann. Also Job nach Schlaganfall: Ja unbedingt, aber mit Weitsicht. Vielleicht wird es nicht ein Job wie vor dem Schlaganfall, aber vielleicht willst du das auch gar nicht mehr. Ich jedenfalls nicht.